Staatstheater Nürnberg

Der Wolf und die Bärin: Calisto im Mythos

Die antiken griechischen Mythen folgen keiner einheitlichen Überlieferung. Viele der Geschichten stammen aus verschiedenen Quellen und sehen deshalb immer ein bisschen anders aus, je nachdem, wo man nachblättert. Eine der beliebtesten, weil literarisch schönsten Quellen sind die „Metamorphosen“ des lateinischen Dichters Ovid. Er beschreibt darin das Prinzip der Verwandlung, ohne die kein Leben möglich ist, denn die Welt und wir alle sind ständigen Verwandlungen unterworfen. Im Mythos von der Nymphe Kallisto (so die deutsche Schreibung, im Italienischen und also in der Oper heißt sie Calisto) und ihrer unglücklichen Affäre mit dem Göttervater Jupiter (ital. Giove) kommt es gleich zu mehreren Verwandlungen – eine ideale Geschichte also für Ovid.

Arcas Preparing to Kill his Mother, Changed into a Bear LACMA M.83.119.3"Arcas preparing to kill his mother, changed into a bear". Hendrik Goltzius. Ovids Metamorphoses. Quelle: Wikipedia, CC-0 gemeinfrei
Hendrik Goltzius - Lycaon"Lycaon" von Hendrik Goltzius. Ovid's Metamorphoses. Quelle: Wikipedia, CC-0 gemeinfrei

LYKAON

Der Vater von Kallisto und erstes Verwandlungsopfer in diesem Mythos ist Lykaon. Er ist König der Arkadier und Gründer von deren Hauptstadt Lykosura, dazu aber ein Unsympath von berüchtigter Grausamkeit. Als Jupiter ihm einen Besuch abstattet, setzt er ihm das Fleisch eines Gefangenen vor und verhält sich gegenüber dem obersten Gott auch sonst äußerst respektlos. Nach einer anderen Überlieferung entfesselt er sogar einen Krieg der Menschen gegen die Götter, in dem die Menschen unterliegen und die Welt deshalb mit Trockenheit bestraft wird. Lykaon jedenfalls wird in einen Wolf verwandelt und muss ruhelos die Wälder durchstreifen.

Kallisto und Jupiter"Kallisto und Jupiter" von Peter Paul Rubens. Quelle: Wikipedia, CC-0 gemeinfrei

KALLISTO UND JUPITER

Lykaons Tochter Kallisto schließt sich den Nymphen der Diana an. Die keusche Göttin der Jagd, auch bei ihren Beinamen Cynthia (ital. Cinzia, kommt häufig in der Oper vor) und Delia genannt, schart eine Gruppe von jungen Damen um sich, die das Gelübde ablegen, keinen Mann zu erhören und nur für die Jagd zu leben. Als Jupiter Kallisto sieht, verliebt er sich in sie, weiß aber, dass sie seine Gegenwart als Mann nicht akzeptieren wird. Deshalb nimmt er die Gestalt seiner Tochter Diana an, um Kallistos Vertrauen zu erschleichen. Bei Ovid ist der Liebesakt zwischen Kallisto und der falschen Diana kein Genuss für beide wie in Cavallis Oper, sondern eine Vergewaltigung. Kallisto merkt den Betrug sehr wohl und weiß auch, dass der Göttervater dahintersteckt.

Als aus der Begegnung zwischen Kallisto und Jupiter der Sohn Arkas geboren wird, wird Jupiters Gattin Juno (ital. Giunone) auf die Sache aufmerksam. Da das gemeinsame Kind Jupiters Seitensprung ans Licht gebracht hat, muss sie sich rächen. Sie tut es, indem sie Kallisto in eine Bärin verwandelt. Als Arkas 15 Jahre alt ist, trifft er auf der Jagd auf die Bärin, die seine Mutter ist. Obwohl die Bärin ihn erkennt und er ein komisches Gefühl hat, will er schon auf sie schießen, als Jupiter dazwischen geht und die beiden ans Firmament wirft, wo sie seitdem als Sternbilder des Großen und Kleinen Bären stehen. Ein Nachruhm übrigens, der Juno sehr gegen den Strich geht.

Johann Michael Rottmayr Diana und Endymion"Diana und Endymion" von Johann Michael Rottmayr. Quelle: Wikipedia, CC-0 gemeinfrei

DIANA UND ENDYMION

Endymion (ital. Endimione) ist ein Hirte, der sich in den Mond verliebt (im Lateinischen „luna“ und also weiblich), damit also der erste Mondsüchtige der europäischen Literatur. Seine Liebe wird von der Mondgöttin Selene erwidert. Um ihm immer nahe sein zu können, versetzt sie ihn in ewigen Schlaf und erscheint jede Nacht, um den Schlafenden zu küssen. In späteren Überlieferungen wird aus Selene dann Diana, die ihre Keuschheit durch den züchtigen Kuss für Endymion nicht verletzt.

Landscape with Pan and Syrinx by Sir Peter Paul Rubens Jan Breughel the Younger"Landscape with Pan and Syrinx", von Peter Paul Rubens und Jan Brueghel dem Jüngeren. Quelle: Wikipedia, CC-0 gemeinfrei

PAN, SILVANUS UND DER KLEINE SATYR

Die Bande von Waldgottheiten, die dem armen Endimione in der Oper so übel mitspielen, hat im Mythos von Kallisto eigentlich wenig zu suchen. Pan (ital. Pane), der bocksfüßige Gott der Hirten und Herden, ist in Diana (ursprünglich in die Mondgöttin Selene) verliebt, der er ein weißes Schafsfell geschenkt hat, damit sie sich einkleiden kann. Trotz des wertvollen Geschenks erwidert Diana seine Liebe jedoch nicht, sondern wendet sich Endymion zu. Silvanus (ital. Silvano) ist eigentlich nur ein latinisierter Name des Waldgottes Pan. In Cavallis Oper werden daraus aber zwei verschiedene Charaktere, die freilich eng miteinander befreundet sind. Der dritte im Bunde ist ein kleiner Satyr (ital. Satirino). Die Satyrn sind sehr triebhafte Waldbewohner, die ständig auf Paarung aus sind und vor allem Dianas Nymphen nachsteigen. In der Oper „La Calisto“ ist Satirino hinter der Nymphe Linfea her, die zwar unbedingt einen Mann will, aber keinen unanständigen kleinen Satyr. Linfea taucht im Mythos nicht auf: Diese sehr wirkungsvolle und komische Figur ist eine typische Erfindung des venezianischen Theaters.

Artikel von Georg Holzer, lizensiert unter Creative Commons Lizenz CC-BY-SA

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